
Choice: „Mein Vorschlag wäre, Hallo zu den Leuten auf der Straße zu sagen!“
Campbell: „Mein Vorschlag wäre ... sich ein neues Lied über Oberhausen auszudenken und es vorzusingen.“
Naoko: „Mein Vorschlag wäre, ein Fernsehreporter zu sein und den Menschen im eigenen Land aus Oberhausen zu berichten.“
Etwas Leichtes und Schönes zieht durch den Raum. Wir sind in einer Dachkammer mit Dielenboden, in einer Studio- und Probensituation. Draußen fahren Autos, leises Rauschen, im Inneren des Hauses ein Experimentierfeld, auf dem sich Frauen und Männer der Frage nähern, wie man sich als Mensch in (s)einer Stadt, in (s)einem Land, in (s)einer Lebenssituation bewegt und über Sprachgrenzen – Afrika, Japan, USA, Oberhausen – hinweg einander an nähert. Wie gehen wir miteinander um? Das Befragte steht nie explizit, doch stets als Geste im Raum – so wie die Stille zwischen den einzelnen Aussagen und das Tageslicht, das die Szene durch die Dachfenster hindurch beleuchtet. Es ist Oktober, wir sind im neuen Kunsthaus Oberhausen Mitte – ein Ort für die Kunst und für die Menschen dieser Stadt, der sich durch den Choreografen und Tänzer Thomas Lehmen herauszubilden beginnt. Hier geht es darum, Erfahrungsräume zu schaffen, mit einfachen künstlerischen Mitteln. In Zusammenarbeit mit Einar Fehrholz sollen soziokulturelle wie interdisziplinäre Projekte entstehen, die die Gesellschaft in Oberhausen konstitutiv einbeziehen: Konzerte, Diskussionsrunden, vor allem Tanz. Mit den teilnehmenden Bürger*innen sollen über das Kunsthaus in der Paul-Reusch -Straße hinaus weitere Räume erschlossen werden, durch gemeinsames Tanzen in Wohnungen und Gärten zum Beispiel oder durch Kooperationspartner wie der katholischen Kirche, die auch dieses bislang leerstehende Gebäude für Lehmens Initiative zur Verfügung gestellt hat. Ziel des von der Kunststiftung NRW geförderten Projektes ist allem voran, Menschen zu erreichen. Menschen, wie Thomas Lehmen sagt, für das Ethische zu sensibilisieren, indem hier Geltungsbereiche des Ethischen angesprochen werden: „Wie schaffen und übernehmen wir Verantwortung, ohne sie ausschließlich zu beanspruchen? Was bedeutet das Ethische in der Kunstpraxis? Wie lässt sich künstlerisch argumentieren, um gesellschaftlichen Problemen entgegenzuwirken? Wodurch lassen sich Wertesysteme überdenken?“ Es geht auch darum, „Tatsachen, Gefühle, Meinungen, Interpretationen ... herauszustellen ... zu sehen ... “, das heißt, über das Künstlerische Tun (wieder) das Denken zu erlernen: Augen öffnen und Selbst-Arbeit.
Das Gemeinsame im Feld des öffentlichen Raums erkennen
Thomas Lehmen (*1963) hat sich seinem Geburtsort Oberhausen – nach vielen Jahren internationaler Praxis – seit einiger Zeit wieder durch gezielte Projektarbeit angenähert. Entscheidende Impulse hat er der Stadt durch seine Initiativen „Brauchse Jobb? Wir machen Kunst“ (2017/2018)*, gefördert von der Kunststiftung NRW, und „Brauchse Jobb? Wir machen Tanz: Erstes Oberhausener Arbeitslosen-Ballett“ (2019) gegeben, die alle unter einem ganz spezifischen Motto laufen: „Oberhausen lieben heißt, ich mache alles für meine Stadt, sogar Kunst!“. Nach Aktionen auf der Gustavstraße* installierte er 2018 ein Büro auf der Marktstraße, die „Kunst-Bude“, mit offenen Türen für die Menschen der Stadt, die aus Oberhausen und aus Afghanistan, Ägypten, Deutschland, Kosovo, Mazedonien, Nigeria oder Syrien kommen. „Brauchse Jobb?“ Ein Modell der bezahlten Kunstarbeit. Ein Projekt, von dem sich Menschen jeder Gesellschaftsschicht und jeder Altersklasse angesprochen fühlen durften, bei dem alle beteiligten „Arbeitslosen“ bei der Bundesagentur für Arbeit unter der Kategorie „Kunst“ registriert wurden, die Entrichtung von Sozialversicherungs- und Krankenversicherungsbeiträgen eingeschlossen. Eine Utopie? Ein freier Ort für Kunst-Arbeiter*innen. Thomas Lehmen eröffnete hiermit den Raum, für jede*n ein entsprechendes Angebot zu machen – das heißt in Erfahrung zu bringen und zu verstehen, was ein Mensch braucht, die Kreativität des Einzelnen anzusprechen – und als Künstler die Rolle des Einzelkämpfers aufzugeben. Das Beispiel „Kunst von Oberhausener*innen für Oberhausener*innen“ steht exemplarisch für eine Haltung, wie man sich den Menschen seiner Stadt annähert: vorurteilsfrei, offen, fragend. „Was-wann-warum-wie-für-wen-wo“, so fragte Thomas Lehmen. Es geht darum, „Kunst FÜR jemanden zu machen“. Dieser Gedanke wie auch jener, den Lehmen im Kontext des „Ersten Oberhausener Arbeitslosen Balletts“ formuliert und praktiziert – dass in der Kunst alle Menschen gleich sind –, schließt an das Postulat der sozialen Plastik (Joseph Beuys) und die Überzeugung Christoph Schlingensiefs an: die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft zu überdenken. Lehmen folgt mit seinen Projekten der Idee: Jede*r hat eine Stimme und eine Profession, auch wenn sie nicht zur vollen Entfaltung kommt, nicht ihren „Platz“ in der Gesellschaft findet, nicht die entsprechende Form, den Rahmen, das Ausdrucksfeld. Es geht in gewisser Weise darum, unberechenbaren Situationen mit Mut zu begegnen, Migration wie Flucht oder Trauma – dem Neubeginn – mit aktiver Entschlossenheit und künstlerischer Fantasie entgegen zu treten, Identitäten und Wissen zu stärken – „Doesn’t matter where you come from“, pointiert Choice Samsin, Kunstarbeiterin der „Kunst-Bude“. Wie kann dies in einer rationalisierten und ökonomisierten Gesellschaft Ausdruck finden? Thomas Lehmens Arbeitsweise stärkt die Haltung, performativ und interaktiv ins Leben zu treten, wenn nicht gar Stabilität durch Kunst zu erzeugen: Durch jede Handlung eine neue anzustoßen – im Sinne Hannah Arendts also tätig zu sein , der „menschlichen Bedingtheit“ nachzugehen und ihr Raum zu verschaffen, das heißt, den öffentlichen Raum als Raum für das Gemeinsame zu erkennen.[1]
Choreografische Partituren und reziproke Kreativität
Kommunikation und das menschliche Wesen, das sich in seiner Umwelt reflektiert, ist zentral in Thomas Lehmens Denken – individuelle Artikulationen, Interrelationen von Tänzer*innen sowie tänzerische Dialoge sind substanzbildend für seine Arbeiten als freiberuflicher Choreograf und Tänzer. Auch das Schreiben ist dabei Grundlage seines Reflektierens. Tanz zum Beispiel durch eine choreografische Partitur zu denken, die durch die tänzerische Umsetzung der Aufführenden erarbeitet wird, hat mit Lehmens „Schreibstück“ (2002) anhaltend internationale Aufmerksamkeit erzielt. Im Rahmen dieses Stückes können verschiedene Tätigkeitsfelder vor dem Hintergrund vorgegebener Parameter wie „Aktion“, „Hinweise“, „Zeit“, „Sound“ und „Raum“ in einer freien Kombination auf der Bühne entfaltet werden. Durch ein konzeptuelles Denken des Tanzes findet so Identität prozessorientiert Ausdruck: Struktur und Freiheit bilden ein Gefüge, das die Seinsweisen der jeweiligen Akteur*innen (in Interkation mit dem Publikum) ausformulieren und dabei gleichermaßen Selbstreferenz wie Transparenz in den Erfahrungsraum bringen. Mit seiner Arbeit „A Piece for You“ hat Thomas Lehmen ab 2013 diesen Erfahrungsraum um eine interkulturelle Komponente erweitert. Er ist mit dem Motorrad durch verschiedene Kontinente gefahren und hat Menschen zu einer Verabredung und Improvisation eingeladen: „Sucht euch eine Person, der ihr ein performatives Geschenkt macht, dafür habt ihr auf der Bühne fünf Minuten Zeit“. Auch in dieser Arbeit ging es darum, Impulse zu setzen, Menschen, die sich vielleicht untereinander kaum kannten, zu verbinden: Grenzen zu überwinden, innere wie äußere. Authentisch und unbegrenzt in der individuellen und künstlerischen Aussage zu sein, auf einer ganz grundlegenden Ebene Werte zu übermitteln, das heißt, Konzepte des Gebens und Nehmens zu reflektieren, das Sich-Aufeinander-Einlassen zu praktizieren, wie auch – im Sinne Marcel Mauss’[2] – den Verpflichtungen nachzukommen, die mit der Gabe einhergehen, also Geschenke – Gesten – zu erwidern, indem man als Mensch aufeinander reagiert und sich aktiv wahrnimmt. Es geht in Thomas Lehmens Arbeiten darum, Distanzen zu überwinden – nicht ohne Grund heißt eines seiner ersten Stücke „Distanzlos“ (1999/2000), ein Solo, in dem der Ausdruck des Körpers das Dialogische als Bedingung des Menschseins benennt.
Probenende und der Beginn des Oberhausener Kunsthauses
Thomas Lehmen spricht oder flüstert ins Mikrofon, liest Überschriften aus der Oberhausener Tageszeitung, während sich die Akteur*innen frei durch den Raum bewegen und Figurinen formen, die sich dem Ort annähern. Konkrete Bezugspunkte wurden zuvor für die Formfindung herausgebildet, Worte, die impulsgebend Formen finden lassen sollen: 1 Hände, 2 Augen, 3 Wirbelsäule, 4 Raum, 5 Beziehung, 6 Bilder, 7 Gefühle, 8 Sound. Hinzu kommen „Mein Vorschlag wäre“[3]-Aussagen, welche die Improvisation der Bewusstwerdung anregen.
Naoko: „Mein Vorschlag wäre, in einem schwerelosen Raum zu sein.“
Thomas: „Mein Vorschlag wäre, Rituale zu tanzen.“
Choice: „Bringt Wasser nach Oberhausen, Wasser ist Leben, das wäre mein Vorschlag.“
Die in ihrer Zusammensetzung immer wechselnde Gruppe, die sich drei- bis viermal innerhalb der letzten Monate hier getroffen hat, formiert sich nun als musikalische Band und lässt sich mit E-Schlagzeug, Gitarre, Bass, Melodika, Okulele und Gesang – fragend, antwortend, aussagend – aufeinander ein. „Alles klar“ ist einer der Titel, doch „manchmal ist nicht alles klar“, wohl aber dies: eine feierliche Stimmung, die aus Offenheit, Neugierde und Friede heraus entsteht. Thomas Lehmen führt das Gespräch, die Choreografie formt sich im Ideenaustausch und schreitet voran. Charaktere entwickeln sich, werden zum Strahlen gebracht. Was kann man in zwei Stunden alles erreichen, um innere Gefühle oder gar ein ganzes Weltbild zu verändern?
„Unsere Stadt“ heißt das Stück, zu dem das „Erste Oberhausener Arbeitslosen Ballett“ vom 31. Oktober bis 3. November 2019 ins Kunsthaus Oberhausen Mitte einlädt. Es ist der öffentliche Auftakt für das von Lehmen und Fehrholz seit einigen Monaten betriebene Kunsthaus (offizielle Eröffnung am 23. November 2019), das ein Ort des transkulturellen künstlerischen Austauschs werden soll. Das Kunsthaus wird so selbst zu einer Gabe, die sich durch die Freigebigkeit aller partizipierenden Bürger*innen der Stadt herausbildet, durch Handlungen und die Liebe zu Oberhausen: „jemand etwas geben heißt soviel, wie jemand etwas von sich selbst geben“[4]. Es sind diese Formen und Vorstellungen des Austauschs, die unsere Horizonte öffnen und für die Thomas Lehmen mit seiner Arbeit entscheidend eintritt, um sie erneut gesellschaftlich zu kultivieren.
[1] Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 16ff., S. 62ff. [2] Mauss, Marcel: Die Gabe – Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1990. [3] Die Aussage „Mein Vorschlag wäre“ steht in Referenz zu einer früheren Arbeit von Thomas Lehmen: „It’s better to...“ (2004). [4] Vgl. Mauss 1990, S. 35.