Auf das Erste Oberhausener Arbeitslosen-Ballett aufbauend, wurde im Jahr 2021 mit TANZ-ARBEIT Oberhausen eine verbindliche Struktur in Oberhausen geschaffen, mit der Tänzer:innen und Tanzinteressierte die Möglichkeit haben, ihre tänzerische Arbeit zu entwickeln und aufzuführen. Die Tanz-Arbeiter:innen erhalten sozialversicherungspflichtige Arbeitsverträge und einen Stundenlohn, der über dem Mindestlohn und über den Empfehlungen des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste liegt.
TANZ-ARBEIT Oberhausen bietet zudem regelmäßig stattfindenden, prinzipiell kostenfreien Unterricht für alle Interessierten und die Möglichkeit an weiterführenden Seminaren und Veranstaltungen teilzunehmen, aber auch deren Inhalte zu gestalten und zu organisieren.
An verschiedenen Orten Oberhausens entstehen Produktionen und Choreographien in der Schnittstelle Kunst/Gesellschaft. Selbstgewählte und selbstgestaltete Inhalte und Formen der Beteiligten bilden die Basis für diese Arbeiten. Hierfür werden während der Arbeitsprozesse künstlerische Eigenkriterien entwickelt, anstelle von externen Kriterien, was, wann, warum Kunst ist.
Das Projekt entwickelt gesellschaftsrelevante, künstlerische Arbeit, indem es systemüberschreitend unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft in kreative Relationen miteinander bringt und diese Arbeit in die Praxis umsetzt. Es leistet einen Beitrag, den kreativen und künstlerischen Dialog mit gesellschaftsrelevanten Inhalten, als eine Voraussetzung für die funktionierende Zivilgesellschaft zu verstehen und zu fördern.
Was ist Tanz-Arbeit?
von Thomas Lehmen
Eine einfache Antwort kann ich auf diese komplexe Frage, und das nach vier Jahren Arbeit in Oberhausen mit diesem Thema, immer noch nicht geben.
Wie in manchen Anträgen, könnte ich zwar die notwendigen Komponenten und Vorgänge hierfür ausführlich auflisten und in detaillierter Weise sachlich beschreiben, wie man Kunst - Tanz - Arbeit - Bezahlung - Menschen - Oberhausen in der Theorie und in der Praxis zusammenbringen kann. Wobei die Theorie und die Praxis notwendigerweise nicht miteinander identisch sind.
Das Ganze würde obendrein mit künstlerischen, philosophischen, politischen, sozialen, kulturellen sowie persönlichen Kriterien, Argumenten und Meinungen, objektiver wie auch subjektiver Art, abgesichert werden.
Diese ethisch, wissenschaftlich und nicht zuletzt politisch korrekte Darstellung käme lang und kompliziert daher, letztendlich würde man es sich aber damit zu einfach machen. Derart alles richtig gemacht, bliebe zwar keine Lücke, aber auch kein Raum mehr für Unerklärbares, worauf doch alle Kunst beruht.
Doch! Stopp! Eine einfache Antwort ist möglich: machen! Nicht zu lange überlegen, sondern tun, umsetzen, Resultate erarbeiten. Erklärungen können auch später gegeben werden und am Ende erklären die Erklärungen doch nur sich selbst. Nicht auf bessere Zeiten warten, sondern handeln, künstlerisch mit den Menschen und künstlerisch mit der Kunst umgehen!
Auf keinen Fall meinen zu wissen wie es geht und meinen es besser zu wissen als diejenigen, um die es geht. Denn, wie kann die Planung, die Entwicklung, die Durchführung eines Projektes funktionieren, ohne dass diejenigen, um die es geht, die wesentliche Rolle spielen?
2021 konnte es in Oberhausen um nichts anderes gehen und es konnte sich um niemand anderes handeln, als um diejenigen Menschen, die tatsächlich vor Ort sind: Menschen in Bewegung und Menschen in ihrer Bewegtheit.
Die räumlichen Bewegungen in ihren Lebensläufen haben sich viele nicht freiwillig ausgesucht. Ihre innere Bewegtheit rührt oft daher, was sie auf ihren Lebenswegen erfahren haben. Alteingesessene Oberhausener und neu Hinzugekommene unterscheiden sich in diesen Punkten kaum, egal, wie viele Kilometer zurückgelegt wurden, und wenn etwas anders scheint, dann nur an der Oberfläche. Sie alle teilen miteinander, dass sie sich selbst und Oberhausen wahrnehmen, und, dass sie alle, mal hier mal da, eine Differenz zwischen sich und Oberhausen wahrnehmen.
Wenn also etwas Einfaches benannt werden kann, was mit allen und immer funktioniert, so ist es,
1. dass sich die Menschen in ihrer Bewegung und in ihrer Bewegtheit gegenseitig akzeptieren,
2. dass die Menschen ihre Differenz untereinander und zu dieser Stadt als positives, kreatives Potential verstehen.
Beides sind Grundvoraussetzungen für eine kreative Kommunikation in einer Gesellschaft und ebenso sind dies fundamentale Voraussetzungen für künstlerisches Schaffen. Denn nichts vereint die Menschen mehr, als dass sie gegenseitig ihre Unterschiedlichkeit anerkennen. Und nichts ist künstlerisch inspirierender, als die Wahrnehmung von Unterschieden.
Daher scheint inmitten der vielen politischen, sozialen und künstlerischen Notwendigkeiten Oberhausens, und dem Rest der Welt, eine Notwendigkeit zentral und somit ein Schlüssel für eine erfolgreiche Arbeit in der Schnittstelle Kunst/Gesellschaft zu sein:
die Notwendigkeit zur Kommunikation miteinander, die Notwendigkeit miteinander eine neue Sprache zu entwickeln, eine Sprache des kreativen Umgangs miteinander, sich gegenseitig, trotz aller Unterschiede Möglichkeiten zuzugestehen, sich gegenseitig Raum für eine künstlerische Entfaltung, auch eine Entfaltung in alle Lebensbereiche hinein, zu geben.
In Oberhausen lebt eine diverse Gesellschaft mit eben diesem Potential für ein Morgen.
Die Kunst kann nicht die Fehler anderer Bereiche kompensieren und ebenso kann sie nicht für andere Zwecke, als ihre eigenen künstlerischen Zwecke instrumentalisiert werden, aber sie kann sehr gut mit den unterschiedlichsten Tatsachen dieser Welt künstlerisch umgehen, sodass, über diese Tatsachen hinausgehend, weitere künstlerische Wahrnehmungen, aber vor allem auch weitere Tatsachen folgen.
Am besten kann die Kunst ihren Teil der Arbeit erledigen, wenn sie sich zugesteht, utopisch sein zu dürfen.
Man sagt, im Kunsthaus könne man so gut schlafen. Die Träume seien von der Art, in der erlebter Traum und die Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar sind und die Übergänge von Traum, Erinnerung an den Traum, Wirklichkeit und Wünsche immer wieder neues hervorbringen, Träume, die in keiner bestimmten Zeitausdehnung stattfinden und man nie weiß, ob man tagsüber nur wach war, um dann im Schlaf in die eigentliche Wirklichkeit zu treten.
So träumen die Menschen dort manchmal ein, zwei, oft auch fünf bis zehn Jahre und bis in alle Ewigkeit voraus:
- vollkommen angstfrei fliegen die Träumenden zwischen den Häusern hindurch, es werden Orte gefunden, in denen sich alles stetig ändert ...
- die Tochter von Tanz-Arbeiter:in X.X. macht ihr Abitur und geht anschließend sofort studieren, als erste in ihrer Familie mit aktuellem Migrationshintergrund ...
- die Träumenden verwandeln sich in andere Personen und manchmal auch in Dinge, die dann wieder auf andere verwandelte Personen und Dinge treffen, da geschieht dann allerlei, was auch durch Poesie kaum noch an die Wachen zu vermitteln ist ...
- die Politik erlässt ein Gesetz, das dem Jobcenter erlaubt, die künstlerische Arbeit der Tanz-Arbeiter:innen langfristig zu finanzieren ...
- ganze Filme, Konzerte, Tanzstücke und Opern werden aus wechselnder Innen- und Außenperspektive geträumt ...
- ...
- und wenn der Schlaf ganz, ganz, ganz tief ist, dann träumen die Menschen dort von der Welt-Kunststadt Oberhausen! In der ehemaligen Einkaufsstraße reihen sich allerlei Orte aneinander: Kunstproduktion, soziale Tätigkeiten, Herbergen, Restaurants, Döner- und Pommesbuden mit grünen Dächern, Musikinstrumenten- und Künstlerbedarf-Läden voll mit Dingern und Zeugs aus eigener Produktion, sowie Aufführungsorte aller bestehenden Sparten und solchen, die es noch nicht gibt, alle Arbeitenden werden sozialversicherungspflichtig bezahlt, alle Welt strömt zu dieser einzigartigen Kunststadt, der Eintritt ist grundsätzlich und überall frei - weil es nur so funktioniert und auch nichts anderes funktioniert, weil eh all das, was funktioniert, zu zweihundert Prozent gesponsert ist.
Aktuell geträumten Berechnungen nach, entspricht das zehnjährige Budget der Weltkunststadt Oberhausen ungefähr dem Budget eines einzigen ungeträumten Raketen-Starts, der einige wenige Passagiere zu deren reinem Vergnügen in das Weltall schießt und nebenbei die Steuern der profitablen Firmen dieser Passagiere auf minus 0,8 Prozent senkt. Sollen die derart Vergnügten dort im All verbleiben, um auf den einzigen lebenswerten Planeten, den sie soeben für immer verlassen haben, zurückzublicken, voller Neid auf diejenigen, die ihre Freude und ihre Träume mit Allen teilen, denn eine tatsächliche Kunst für Alle - und Kunst ist prinzipiell immer für Alle, sonst ist es keine Kunst - muss nicht nur auf Kriterien aufgebaut sein, die von Allen entwickelt werden, sondern muss auch auf Träume aufbauen, die von allen für alle geträumt werden.